50er Jahre

Nach dem Krieg ist eine Stagnation des Liedgesangs in Deutschland überhaupt zu beobachten. Hauptgrund ist der Missbrauch des Liedes durch die Nationalsozialisten.

“Kurz nach Kriegsende hatte man wenig Lust zu singen. Noch hatte man die Lieder der Faschisten im Ohr, die verlogenen Schnulzen der Hitlerjugend (‘Es geht eine helle Flöte’) und die blutrünstigen Marschgesänge von SA und Naziwehrmacht.”

Trotzdem ist der Nationalsozialismus nicht der einzige Grund für ein distanziertes Verhältnis zum Lied. Die kulturellen Unwälzungen der Kriegs- und Nachkriegszeit haben über die Erkenntnis hinaus, dass das Lied missbraucht wurde, einen breiten Traditionsbruch überhaupt erst spürbar gemacht.

“Die deutschen Liedermacher – heißt es immer wieder – haben wegen des Missbrauchs in der Nazizeit Probleme mit dem deutschen politischen Lied, mit der Tradition des “Volksgesangs” überhaupt. Doch viele der bunten Traditionsfäden beim populären Singen wurden viel früher abgeschnitten, ohne dass neue geknüpft worden wären.” (Barbara James)

Franz Josef Degenhardt fasst diese Negation des Liedes später in einem Lied zusammen, das in praktisch allen Publikationen, die sich mit der Geschichte der deutschen Liedermacher auseinandersetzen, zitiert wird:

“Tot sind unsere Lieder / unsre alten Lieder.
Lehrer haben sie zerbissen, / Kurzbehoste sie zerklampft,
braune Horden totgeschrien, / Stiefel in den Dreck gestampft.”

1968, als Degenhardt diesen Text veröffentlicht, ist eine breite Rekonstituierung des Liedes im vollen Gange; er wird im von Barbara James genannten Sinne als ausschließliche Manifestation des NS-Traumas gedeutet, obwohl sich der Autor in ihm generell gegen die Okkupation des Liedes wendet, von welcher Seite auch immer (außer der eigenen, versteht sich). Außer den “braunen Horden” sind hier die singenden Pfadfinder und Wandervögel (“Kurzbehoste”) ebenso gemeint wie der verschleißende Volkslied-Gebrauch in Schulen (“Lehrer haben sie zerbissen“). Dass die “alten Lieder” von “Stiefeln in den Dreck gestampft” worden seien, muss kein auf Nazistiefel begrenzter Hinweis sein; auch die Bundeswehr sang und singt heute noch. Das Lied konstatiert also die mehrfach gebrochene deutsche Liedtradition.

(Besonders ist hier die intellektuelle Liedrezeption gemeint. Die Mechanismen, die sich über die Unterhaltungsmusik und die schlagerhafte “Volksmusik” ergeben, sind hier gänzlich unberücksichtigt. Es kann lediglich konstatiert werden, dass in Deutschland der Bruch zwischen kommerzieller Volksmusik und “intellektueller” Folklore-Pflege nicht zu überbrücken ist; es existieren zwei Musikformen mit unterschiedlichen Märkten und Künstlern ohne Berührung nebeneinander).

Ostermarsch

Bevor es zur Entwicklung dessen kommt, was wir “Liedermacherszene” nennen, werden dennoch neue Lieder geschrieben und aufgeführt. Der Schriftsteller Gerd Semmer beginnt schon Anfang der 50er Jahre, politische Lyrik in Liedform zu verfassen, die kritisch Stellung zu den aktuellen Themen der politischen Öffentlichkeit nimmt. Dieter Süverkrüp, der als Jazzgitarrist und Moritatensänger einigen Erfolg hat, übernimmt, nachdem er und Semmer sich 1956 trafen, die Vertonung und Aufführung der Semmer-Texte. Der “Typus Liedermacher” ist also bereits in den 50ern wieder aktuell: ein Mann mit Gitarre singt (noch nicht selbst verfasste) Texte anspruchsvoll-politischen Inhalts.

Lieder von Süverkrüp/Semmer bekommen in der ab 1960 im Zuge der Atomdebatte beginnenden Ostermarsch-Bewegung Publikum und Bedeutung. Überhaupt ist es diese Bewegung, die das neue Lied in den folgenden Jahren entscheidend trägt und bildet. Sie bringt als Antwort auf Wiederaufrüstung, kalten Krieg und internationale Konflikte ein von der deutlichen Kritik an den Herrschenden und der Forderung nach “Frieden” geprägtes Liedgut hervor. Die Protagonisten dieser Bewegung sind vor allem Semmer, Süverkrüp, die Sängerin Fasia Jansen und andere.

Die Ostermarsch- und Friedensbewegung nimmt Anfang der 60er Jahre neben den ersten Semmer-Liedern auch Lieder aus der amerikanischen Protestbewegung auf, besonders “We shall overcome”. Die sich Anfang der 60er Jahre langsam formierende musikalische Protestkultur greift noch sehr zaghaft auf eigene Lieder zurück. Trotzdem ist sie als Bewegung ein guter Humus für neue Lieder: sie hat ein Thema, Tausende begeisterter (junger) Leute, den Bedarf nach eigener kultureller Betätigung.

Bündische Jugend

Nach dem Krieg hatten sich einige der im Nationalsozialismus verbotenen oder in die HJ integrierten Gruppen der Jugendbewegung neu formiert. Auch die wieder erstande Bündische Jugend singt wieder. Wie vor dem Krieg ist es Folklore, die die jungen Sänger beschäftigt. Es wird heute bisweilen behauptet, dass ein großer Teil der Jugendbewegung latent nationalistisch und somit über die Eingliederung ins Dritte Reich nicht unerfreut gewesen sei. Tatsächlich aber kennzeichnete die Bewegung auch eine große ideologische Heterogenität, die von romantisch verklärter Weltflucht bis zu revolutionär-antibürgerlichem Pathos, von nationalistischen bis zu sozialistischen Tendenzen reichte. Eine der wichtigsten Gruppen, die “Deutsche Jungenschaft dj 1.11” unter Eckhard Koebel, genannt “tusk”, versuchte sich vor dem Krieg sogar in antinazistischer Agitation . “tusks” dj 1.11 wird von den Nationalsozialisten folgerichtig total zerschlagen.

Burg Waldeck

Bereits in den 20er Jahren hatten Gruppen des “Nerother Wandervogels” im Hunsrück bei Kastellaun mit der Burg Waldeck eine Burgruine entdeckt, auf der sie ein Zentrum des Wandervogels, einen “Lehrstuhl der Vagabondage” errichten wollten. Die idyllisch gelegene Ruine war fortan Treffpunkt von Wandervögeln.

Nach dem Krieg treffen sich die wiedergegründeten Bündischen Gruppen wieder, wie vor 1933 auf der Burg. Parallel zur Friedensbewegung entwickelt sich hier ein neues Verständnis vom Lieder singen. Ende der 50er Jahre wird aus den Kreisen der Bündischen Jugend eine “Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck” (ABW) gegründet, die die Burg organisatorisch verwalten und betreuen soll. In dieser Arbeitsgruppe sind unter anderen die Pirmasenser Volkssänger Hein und Oss Kröher und der Sänger Peter Rohland aktiv.

Die Waldeck ist aber nicht nur “Singelager” der Jugendbewegung. Schon in den 50er Jahren ist sie Zentrum politischer und sozial-pädagogischer Diskussion. Schon jetzt kommt es zu deutlich spürbaren Konfrontationen zwischen dem ebenfalls ansässigen konservativ- patriotischen Nerother Wandervogel und den offeneren und progressiveren anderen Gruppen.

Ausschnitt eines längeren Textes von Philipp Schmidt-Rhaesa , Teil seiner Examensarbeit zum Thema „Fort- und Weiterbildung bei deutschen Liedermachern“, verfasst 1996.  Auch wenn manches bruchstückhaft bleibt, so wird z.B. nur über die westdeutsche Liedermacherszene geschrieben, ist es dennoch ein gelungener Überblick über die Liedermacher-Szene in der BRD von 1945 bis in die 1990er Jahre.