Es gibt allerdings auch Bühnengesetze, und die sollte man kennen. Bei aller Freude, endlich da zu sein: Es ist eine Bühne, auf der Sie stehen. Also bitte plumpsen Sie nicht in einen Sessel, sondern erwecken Sie den Eindruck, dass Sie plumpsen. Seien Sie nicht hektisch, sondern erwecken Sie nur den Eindruck. Sie werden ja hoffentlich auch nicht betrunken sein, wenn Sie einen Betrunkenen darstellen wollen. Leichter gesagt als getan, und es ist völlig unmöglich, diese Dinge via ein paar Blättern Papier mit Druckerschwärze auch nur ansatzweise auszuführen. Man muss es ausprobieren: Wo erwecke ich nur einen Eindruck und wo bin ich echt? Wenn Sie zum Beispiel das beliebte Wienerlied »Weil mir so fad is« (Bronner / Qualtinger) singen, darf Ihnen natürlich nicht fad sein. Sonst sind Sie nämlich fad. Die Spannung muss bleiben! Gerade dieses Chanson zeigt es exemplarisch: Qualtinger sang es überhaupt nicht gelangweilt, sondern mit einer zugrundeliegenden Aggressivität. Er war gefährlich, er war einfältig, er hat sich gefreut über die Leute, denen er aus Langeweile Böses tat, und er war ehrlich enttäuscht, wenn sich nach der Tat die Langeweile wieder und stärker einstellte.
Aber man spürte zugleich, wie er die Langeweile gewöhnt ist, und man spürte, dass seine Figur von der Hirnkapazität her nicht in der Lage ist, dieser Langeweile wirklich zu entrinnen. Überhaupt war Helmut Qualtinger einer der großartigsten Interpreten ever. Wie er seine Lieder mit Subtexten versah, wie er die Person war, die er darstellte, auch als reiner Schauspieler, beispielsweise im immergültigen »Herr Karl«, das ist unerreicht. Wenn Helmut Qualtinger »Mein Kampf« liest, ist jedem unbegreiflich, dass man dieses Buch damals nicht sofort als Werk eines gefährlichen Irren entlarvte. Denn es steht im Text.
Nur: Qualtinger konnte den Inhalt rausholen. Ich hatte noch das Glück und die Ehre, Helmut Qualtinger persönlich kennenzulernen, daher weiß ich genau, um wie vieles der Mensch Qualtinger anders war als die Figuren, die er so exemplarisch spielte. Ich kann nur zuraten, sich Qualtinger-Aufnahmen zu besorgen, denn allein beim Zugucken werden Sie sicherlich rasch begreifen, was ich meine. Man kann ihn auf DVD und im Internet bei YouTube finden. Lassen Sie sich nicht vom Dialekt oder dem altmodischen Ambiente ablenken, sehen Sie nur, wie er seine Figuren erfühlt. Es gibt auf YouTube auch Aufnahmen, in denen er nicht singt, sondern einzelne ›Typen‹ für eine satirische TV-Show exemplarisch improvisiert! Man lernt enorm. Leider war Qualtinger auch exemplarisch in der Darstellung dessen, wie tief unter die eigene Haut das Interpretieren gehen kann – oder auch: Wie furchtbar die Wiener Kulturlandschaft ist? Jedenfalls: Er hat sich versoffen. Und so sind vor allem die älteren Aufnahmen von jener unglaublichen Kraft.
https://www.youtube.com/watch?v=ALNVz_CcT0c
Sandra Kreisler über Helmut Qualtinger – in ihrem Chansonbuch